Momentaufnahmen im Fluss der Farben
Der Augenblick in dem eine Wolke am Himmel vorüberzieht und sich auf der
Wasseroberfläche spiegelt - Die Bewegung des Wassers, das sich wellenförmig dem
Ufer nähert und sich wenige Momente später zurückzieht - Ein Schatten, der durch
das Atelierfenster auf eine Leinwand fällt und durch seine Bewegung, durch die
Veränderung des Lichts, fast schon eigene Bilder malt.
Kurze Eindrücke, die wir vielleicht noch wahrnehmen, sie zumeist im nächsten
Augenblick aus unserem Bewusstsein entschwinden, da wir ihnen keine Bedeutung
beimessen. Für die Malerin Marie-Hélène H.-Desrue sind diese kurzen
Wahrnehmensmomente von besonderer Wichtigkeit, führen sie doch bei ihr zu einer
künstlerischen Umsetzung. Es ist die Faszination für die kleinen Dinge und die
kurzen Begebenheiten, die sie zu einem Bildausschnitt führen. Und insbesondere auf
ihren großformatigen Arbeiten von 150cm x 150cm erhält das nur kurz Gesehene eine
Bedeutung und entfaltet seine in den Bann ziehende Wirkung. Das schnelle Umsetzen
der Wahrnehmung in ein Bild wird insbesondere durch die Malweise von
Marie-Hélène H.-Desrue unterstützt. Die auf dem Boden liegende Leinwand lässt
weniger Distanz zu, erfordert von der Künstlerin mehr eigene Bewegung und
verändert ihre Perspektive zu ihrem Bild. Während des Malprozesses muss sie sich in
ihren Bewegungen dem Fluss ihrer Farben anpassen. Die Schnelligkeit, die ihrer
Technik zu Grunde liegt, kann man als Pendant zu den gesehenen Momentaufnahmen,
den Impulsgebern ihrer Bilder sehen. Ein Augenblick des Sehens muss bei ihr auch
rasch verarbeitet werden. Ihre Technik duldet keinen zeitintensiven Schaffensprozess,
da die Vermischungen nur im flüssigen Zustand der Farben möglich sind. Hat sie
einmal ihre Farben aufgetragen, so verbleiben ihr kaum Möglichkeiten zur Korrektur
im Bild. Die Gemeinsamkeit der Zeitbegrenzung zwischen dem, was Marie-Hélène H.-Desrue
zum Malen bringt, und ihrer Technik, wird hier einmal mehr deutlich.
Die Momentaufnahmen, welche die Künstlerin in ihren Arbeiten zeigt, sind jedoch
nicht einfach nur wiedergegeben. Die Malerin reflektiert das Gesehene. Wobei die
Worte reflektiert und Reflexion in den Arbeiten von Marie-Hélène H.-Desrue eine
besondere Bedeutung erfahren. In ihrer Serie Spiegelungen aus dem Jahre 2002 nimmt
sie den Begriff sehr wörtlich. Beispielweise gibt sie in Arbeiten Große
Spiegelung (grün) I und II einen kleinen Ausschnitt aus der Natur wieder und wir
als Betrachter können uns auch derlei Orte vorstellen. Durch ihre Art der
Darstellung wird uns als Betrachter jedoch deutlich: Nicht das Abbilden der
Natur steht bei der Künstlerin im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Vielmehr geht es um
das Festhalten ihrer Sicht auf die Dinge, um ihren subjektiven Fokus, um ihre Reflexion.
Aber die Künstlerin begnügt sich jedoch nicht mit dieser einen Reflexion. Vielmehr
lässt Marie-Hélène H.-Desrue ihren subjektiven Blick und das daraus entstandene
Bild nochmals reflektieren und zwar auf der für uns erkennbaren Wasseroberfläche.
Es ist nun an uns als Betrachter zu ergründen, welches Urbild dem Abbild zu Grunde
liegt. Wir sind gefordert das Bild für uns zusammenzusetzen und es wird uns dabei
nochmals sehr deutlich, es geht Marie-Hélène H.-Desrue nicht um das Abbilden. Bei
den Arbeiten aus der Serie Spiegelungen wird der Betrachter mal mehr und mal weniger
von den ursprünglichen Ausschnitten erkennen können. Es bleibt für ihn eine gewisse
Unsicherheit. Nichts erschließt sich sofort und in Gänze. Aber es ist insbesondere
diese Verunsicherung, die in jedem Bild nach Auffassung der Malerin innewohnen
sollte. Für Marie-Hélène H.-Desrue darf ein Bild dem Betrachter nicht zu vertraut
vorkommen, gar vertraut sein. Jene Verunsicherung ruft die Künstlerin beim Betrachter
durch ihre Art der Spiegelung auf der Wasseroberfläche hervor. Nicht auf den ersten
Blick werden wir den Bildinhalt erfassen. Die sich durch die Spiegelung auflösenden
Gegenstände müssen wir vor dem Hintergrund unserer Seherfahrungen zu einem Bild
zusammensetzen. Wenn es dem Betrachter auch nicht sofort bewusst ist, so wird er
dabei mal durch horizontale, mal durch vertikale Linien, die den Bildraum
aufteilen, unterstützt. Der Betrachter wird entdecken, wie diese Linien den
Bildinhalt ordnen und eine Struktur geben. Dieses Prinzip der Bildaufteilung findet
sich auch in der neusten Serie mit dem Titel Fallen aus dem Jahre 2004. Doch was
begegnet dem Betrachter hier?
Marie-Hélène H.-Desrue verlässt den Bereich der Erkennbarkeit. Nicht mehr
Ausschnitte aus Beobachtungen werden uns hier näher gebracht, sondern runde,
elliptische Formen, die mal im Gefüge nach oben zu streben scheinen, ein anderes
Mal sich nach unten bewegen. Dem Betrachter mögen die Arbeiten aus der Serie
Fallen (2004) als etwas ganz anderes, geradezu als ein Kontrapunkt zu der Serie
Spiegelungen aus dem Jahre 2002 erscheinen. Diese Feststellung mag auf den ersten
Blick zutreffen. Wer jedoch frühere Arbeiten der Künstlerin kennt, wird jene
elliptische Form mit Arbeiten aus dem Jahre 2001 in Verbindung bringen, wie
beispielsweise senkrecht-waagerecht. Und die auch in der Serie Fallen (2004)
auffällige Auseinandersetzung mit Bewegung innerhalb eines Bildes stellt ein
Kontinuum in dem künstlerischen Schaffen von Marie-Hélène H.-Desrue dar.
Bei aller Unterschiedlichkeit des Bildinhaltes in der Serie Fallen im Vergleich
zu den Spiegelungen, bleibt die Künstlerin hier zwei wesentlichen Prinzipien ihrer Malerei
treu, ihrem künstlerischen Ordnungsprinzip aus Waagerechten und Senkrechten sowie
ihrer besonderen Farbigkeit.
Letztere, diese besondere Farbigkeit, erreicht Marie-Hélène H.-Desrue mit ihrer
Technik, bei der sie Beizen, Tuschen und Acrylfarben verwendet. Der souveräne
Umgang mit dieser Mischtechnik ermöglicht es Marie-Hélène H.-Desrue gezielt ihre
Farben ineinanderverlaufen zu lassen, wodurch wunderbare Farbüberlagerungen
zustandekommen. Das Fließen der Farben, und hier insbesondere das Verlaufen, das
Auslaufen der Farbe auf der Leinwand, führt gerade bei den Spiegelungen zu jenem
besonderen Eindruck von Bewegung. In der Serie Fallen führt diese Technik zu
neuen Seherlebnissen. Die Überlagerungen lässt die einzelnen Farbtöne mal im
Vordergrund erscheinen, einen Augenblick scheint dieselbe Farbe jedoch wieder in
den Hintergrund zu treten. Der Betrachter ist gefordert und er muss mit seinen
Augen selbst ergründen, ob die Formen in Fallen rot (2004) für ihn sich eher
nach oben oder nach unten bewegen. Spannungsreich bleibt die Auseinandersetzung
des Betrachters mit diesen Arbeiten allemal, stellen sie doch seinen eigenen
Standpunkt immer wieder auf das Neue auf einen Prüfstand und fordern ihn
auf, seine eigenen Sehgewohnheiten zu reflektieren.
Roswitha Zytowski M.A.
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