Chiffren fließender Bewegung |
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Auszug: Katalog Malerei 2000-2001: |
"Alles fließt" war schon die Erkenntnis griechischer Naturphilosophie vor
mehr als 2.000 Jahren, um die ewige Abfolge von Werden und Vergehen pointiert zu
formulieren. Die damit verbundenen Assoziationen sind bis heute ins beinahe
Unüberschaubare gewachsen: Vom Fluß der Zeit ist genauso die Rede wie von
den Lebens- oder Bewußtseinsströmen, von flüssiger Schrift und
fließenden
Bewegungen. Den damit verbundenen Erfahrungen und Einsichten genauso konzentrierten
wie sinnfälligen Ausdruck zu verleihen, ist eine große künstlerische
Herausforderung, und sie wächst noch einmal erheblich, wenn keine der dynamischen,
sondern die - zumindest in ihrem Ergebnis - statische Malerei als Medium
gewählt wird. Das Bild als Chiffre fließender Bewegung ist das Thema, mit dem
sich Marie-Hélène H.-Desrue in den letzten Jahren zunehmend beschäftigt und für
das sie inhaltlich wie formal konvergente Lösungen entwickelt hat. Die einst so erbittert geführte Auseinandersetzung zwischen 'gegenständlichen' und 'ungegenständlichen' Malern ist längst bedeutungslos geworden. Und Künstlerinnen wie Marie-Hélène H.-Desrue zeigen sehr anschaulich, warum: Gerade im 'Dazwischen' sind vielleicht die interessantesten Ergebnisse zu erzielen, in jenem Zwischenbereich, auf den der Begriff 'Abstraktion' eigentlich abzielt - der Loslösung vom konkret Abbildenden und der Bewegung hin zum immer Allgemeineren. Wie weit dieser Weg beschritten wird, ist dann individuelle Entscheidung - von Seiten der Kunstschaffenden, aber auch ihres Publikums mit seinen je eigenen Assoziationen. Die Frage des Bildgegenstandes verliert aus dieser Perspektive ihre eindeutige Beantwortbarkeit; sie ist zu ersetzen durch die Rekonstruktion des künstlerischen Prozesses und der darin verankerten prinzipiellen Vieldeutigkeit der künstlerischen Aussage. Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit ist bei Marie-Hélène H.-Desrue in vielen Fällen das konkrete Erlebnis, das irgendwo wahrgenommene Detail, das in einer knappen Skizze oder auch per Fotoapparat in seiner Grundstruktur fixiert wird. Manchmal dauert es Jahre, bis sich daraus ein Gemälde entwickelt und häufig ist es kaum mehr als irgendeine Einzelheit oder ein winziges Fragment, was dazu den Anlaß bildet. In der letzten Zeit sind es vor allem Landschaftsausschnitte, die die Künstlerin faszinieren: Der Blick zwischen ein paar Bäumen hindurch ("Schneise"), die Spiegelung von Lichtern oder Gegenständen auf Wasser oder Eis, und immer wieder die Oberfläche des bewegten Wassers selbst mit ihren zerfließenden Farben. Wasser ist in den unterschiedlichsten Kontexten zum zentralen Bildmotiv geworden, sei es fast ganz abstrakt mit Titeln wie "Fließend" oder "Ebbe" und "Flut", sei es als in unterschiedlichem Maße konkretisierte "Ufer" - Ausschnitte, die ganz programmatisch immer auch die angesprochene "Dazwischen"-Thematik der Malerei reflektieren. Der Weg, den sie dann verfolgt, hat nicht das Ziel, das Gesehene einfach abzubilden; wie es überhaupt nie um die Gegenstände selbst, sondern höchstens um Perspektiven der Wahrnehmung geht. Angemessener ist es statt dessen von 'nachbilden' zu sprechen. Denn Marie-Hélène H.-Desrue will einer doppelten Bewegung Raum geben: Für sie soll das entstehende Bild sowohl Ausdruck von eigenen Schwüngen beim Farbauftrag sein wie auch der Eigendynamik der dünnflüssigen Lasuren, die sie zunehmend als Farbträger verwendet. Dieser "Dialog" besitzt für sie ein solches Gewicht; daß er immer wieder auch zum alleinigen Bildthema werden kann - das Bild dann als Dokument eines performativen Prozesses, in dem Malerei letztlich sich als Form des Tanzes manifestiert. Wenn es bei diesem Ansatz auch nicht darum geht, einen im Voraus im Detail festgelegten Plan zu realisieren, so bleibt doch nicht alles dem bloßen Zufall überlassen, erweist sich der Prozeß der Bildgestaltung als komplexes Ineinandergreifen von kalkulierten Vorgaben, beobachtendem Zulassen und abgewogenen Reaktionen. Dies beginnt bereits bei der Materialwahl: An die Stelle der weiß grundierten ist immer mehr die unbehandelte, rohe Leinwand getreten. Sie ermöglicht es nicht nur, ihr sandiges Braun, sondern auch ihre textile Struktur in die Komposition miteinzubeziehen. Die Entscheidung für diesen Untergrund und die Kombination von Acrylfarben und Lasuren erzwingt dann wieder ein rasches, impulsives Arbeiten, das eigentlich keine Korrekturen mehr zuläßt. Mischungen zwischen den beiden Farbträgern sind nur im feuchten Zustand möglich und ergeben dann pastellartige Zwischentöne; Übermalungen sind praktisch ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen ist jedoch der Einsatz von Kohle oder Kreide, um die mehr oder minder amorphen Farbschleier mit skripturalen Elementen zu kontrastieren. Ursprünglich mag es ein Nachklang des intensiven Umgangs mit Literatur gewesen sein, der die studierte Germanistin dazu bewogen hatte, ganze Textpassagen mehr oder minder verschlüsselt in ihre Gemälde zu integrieren; eigenes Gewicht hatte jedoch auch die Deutung der Schrift als sublimierter tänzerischer Bewegung, als Geste und nicht als Zeichen. Mittlerweile ist beides miteinander verschmolzen, wurde reduziert zu graphischen Lineaturen als selbständigen Bildelementen, die nur noch dann und wann von Ferne die rationale Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt andeuten ("Himmel und Erde", "Landschaftspaar") oder hintergründige literarische Bezugspunkte akzentuieren ("Ophelia III"). Daß dabei das Meiste der Gedanken und Gefühle, die die Künstlerin während des Schaffens bewegen, von den späteren Betrachtern kaum mehr nachvollzogen werden kann, stört Marie-Hélène H.-Desrue keineswegs, im Gegenteil: Eine gewisse Verwirrung ist ihr sogar willkommen. Sie fördert das Loslassen vorgefaßter Meinungen und das Einlassen auf den Strom des malerischen Gestaltens. |
Dr. Konrad Dussel |
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